Mit "Belfast" verarbeitet Schauspieler und Regisseur Kenneth Branagh seine aufwühlende Kindheit in der nordirischen Hauptstadt. Wir sprachen mit ihm über die Anfänge seiner Kinoleidenschaft, sein aufgearbeitetes Vergangenheitstrauma und die Schwierigkeit während der Pandemie zu drehen.
Pompöses Edel-Blockbusterkino und ein intimes stargespicktes Ensemble-Drama: So oder so ähnlich könnte man den Februar 2022 für Schauspieler und Regisseur Kenneth Branagh wohl zusammenfassen. Zum einen ist nämlich mit "Tod auf dem Nil" die Fortsetzung seiner Agatha Christie-Leinwandliebe erschinenen, in der Branagh nicht nur als leitender Kommissar vor der Kamera zu sehen ist, sondern auch die Fäden hinter der Kamera als Regisseur zieht. Und nur wenige Wochen später erscheint endlich sein wohl persönlichstes und intimstes Projekt bisher in den deutschen Kinos: In "Belfast" verarbeitet Branagh als Sohn einer nordirischen Arbeiterfamilie seine teils traumatische und gleichzeitig auch prägnant-schöne Kindheit in Belfast.
Das intime Familiendrama wurde für insgesamt sieben Oscars nominiert und begeisterte bei seinen Uraufführungen in Telluride und Toronto sowie im vergangenen Jahr beim Hamburger Filmfestival das Publikum. Mit einem Star-Ensemble rund um Jamie Dornan, Caitriona Balfe, Judi Dench, Ciarán Hinds und Newcomer Jude Hill, der quasi in die Rolle des kindlichen „Kenneth Branagh“ tritt, will „Belfast“ nun auch das deutsche Kinopublikum ab dem 24. Februar 2022 begeistern.
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Wir konnten mit dem Regisseur im Vorfeld über den emotionalen Dreh, den schwierigen Ausgangsbedingungen und den Anfängen seiner Kinoleidenschaft sprechen.
TVMovie.de: Wie emotional war der Dreh für Sie?
Kenneth Branagh: Wenn man einen Film dreht, dann sind auch so viele praktische Dinge involviert, so dass man eigentlich kaum eine Möglichkeit bekommt, um emotional zu werden. Seitdem der Film allerdings fertig ist, ist die Reise sehr emotional für mich gewesen. Jamie Dornan und ich waren unglaublich berührt, als wir den Film das erste Mal beim Telluride und Toronto International Film Festival gezeigt haben. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass dieses Publikum einen Film überhaupt im Kino sehen konnte. Es war das erste Mal seit knapp anderthalb Jahren, dass ich wieder vor 900 Menschen stehen konnte, die den Film gerade eben gesehen hatten. Die Atmosphäre war unglaublich geladen. Am nächsten Morgen gab es eine Frühvorstellung des Films um neun Uhr. Die Schlange für Tickets war so lang, dass sie sogar über den Stadtrand hinausging. Wir waren komplett überwältigt. Für Jamie war es natürlich besonders emotional, weil er seinen Vater im vergangenen Jahr verloren hatte und ihn bis zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal beerdigen konnte. Und natürlich wurde er darauf angesprochen, was ihm natürlich extrem nah ging.
TVMovie.de: Was ist mit der Straße passiert, in der Sie als Junge gelebt haben?
KB: Die Straße gibt es nicht mehr. Sie wurde zerstört genauso wie meine Schule. Und Ich habe auch Catherine nie wiedergesehen. Ich bin mir sicher, sie hat diesen Mathe-Kerl, den man am Ende vom Film sieht, geheiratet (lacht). Übrigens haben wir ganz in der Nähe von Ciarán Hinds' zuhause gedreht, der ja die Rolle von "Pop" im Film spielt. Er war damals ja nur etwas älter als ich, aber wir kannten die Gegend beide sehr gut.
TVMovie.de: Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt selbst die Rolle des Vaters im Film zu übernehmen?
KB: Nein, tatsächlich nicht. Mir war immer klar, dass ich das Projekt an meinen außergewöhnlichen Cast abgeben würde. Es war ja keine Therapiestunde für mich, auch wenn ich das Drehbuch verfassen musste. Das Thema musste irgendwie raus aus mir. Aber es hätte vermutlich gereicht, wenn ich das Buch geschrieben hätte und es letztendlich in meiner Schreibtischschublade gelandet wäre. Aber wir hatten uns entschlossen das Projekt umzusetzen und ich war einfach extrem gespannt, wie es sich entwickelt und wie es die Darsteller*innen für sich beanspruchen.
TVMovie.de: Was bedeutet Heimat im Kontext des Films für Sie?
KB: Ich denke, dass es "Pop" im Film sehr gut beschreibt, wenn er sagt, dass „Heimat“ etwas sei, dass man auch mitnehmen und neu erleben kann, wenn einem das physische Zuhause weggenommen wird. Es kann eben auch ein Bewusstseinszustand sein. Welche Erfahrungen, welche Beziehungen oder welchen Humor kann man für sich in so einer Situation mitnehmen? Wenn "Buddy" an Weihnachten schreit, dass er Belfast nicht verlassen möchte, dann kann man sich genauso gut vorstellen, dass er so etwas sagen könnte, wie bspw. „och möchte nicht aufwachsen“ oder „ich möchte nicht alles verlieren“. Er kann das in seinem Alter nicht klar artikulieren, aber natürlich hat er Angst seine Identität oder geliebte Menschen wie "Pop" zu verlieren. Für jeden verläuft dieser Wandel anders, aber das Leben von "Buddy" hat sich auf eine sehr brutale Art und Weise gewandelt, wo vorher doch alles so klar und einfach war.
TVMovie.de: Welchen Einfluss hatte die Covid-19-Pandemie auf den Film?
KB: Die Covid-19-Pandemie hatte von Beginn an einen sehr großen Einfluss. Ich weiß nicht genau, ob Sie auch diese Erfahrung gemacht haben, aber ich erinnere mich noch an den ersten offiziellen Lockdown, als ich mit meinem Hund spazieren war und plötzlich keine Flugzeuge mehr zu hören waren. Es gab plötzlich mehr Raum und deutlich weniger Geräusche im Kopf. Und natürlich gab es unterschiedliche Ansätze damit umzugehen: Manche haben angefangen zu trinken. Manche haben trainiert. Und andere haben sich kulinarisch betätigt. Für mich war es tatsächlich dann auch eine Erinnerung an meinen eigenen „Lockdown“ in der Kindheit: Als wir drinnen quasi eingesperrt waren, weil die Straße wie eine Festung war. Und schon damals wurde mir bewusst, wie schnell sich „Frieden“ bzw. der gesellschaftliche Status Quo ändern können.
TVMovie.de: Es gibt einige wunderbare Kinoszenen im Film mit Klassikern wie „Chitty Chitty Bang Bang“ usw. War das auch die Zeit in der Ihre Leidenschaft für Filme begonnen hat?
KB: Vermutlich. Ich erinnere mich noch, dass ich in diese fast schon psychedelischen Farben einiger Filme aus den 1960ern vernarrt war. Als ich den Beattles-Film „Yellow Submarine“ geschaut habe, war es wirklich wie in einer anderen Welt zu sein. Aber Filme wie "Chitty Chitty Bang Bang“, „Sound of Music“ und diese Art von Filmen waren einfach so weit weg vom Grau unseres Alltags. Wenn man dann ins Kino geht und diese unglaublichen Farben und exotischen Orte sieht, dann ist das einfach fantastisch. Das hat meine Vorstellungskraft unermesslich gesteigert. Diese "A Christmas Carol"-Theater-Produktion in Belfast, die ich als Kind gesehen hatte, hat sich auch so stark eingebrannt. Ich habe zu Freunden von mir einmal gesagt, die ebenfalls Künstler sind, dass das Künstlerleben eigentlich aus diesen Schlüsselmomenten an Bildern und Impressionen besteht, die man irgendwann in der Kindheit erlebt hat. Und ich denke immer noch, dass das wahr ist, weil ich diese Momente in der Dunkelheit geliebt habe, als die Farben und Formen auf der Leinwand förmlich explodiert sind.
TVMovie.de: Neben „Belfast“ ist mit „Tod auf dem Nil“ eine weiterer Agatha Christie-Verfilmung von ihnen aktuell in den Kinos. Was lieben sie an diesem Genre?
KB: Ich liebe Mystery. Und ich lese weiterhin viele Mystery-Romane. Und ich finde Ermittler*innen einfach spannend: Weil sie ermitteln, zahlen sie immer einen Preis und müssen meist etwas aufgeben. Sie leiden oft ähnlich wie Menschen mit einer großen Gabe. Ihr Geschenk ist nämlich Empathie, aber damit einhergehend auch das Trauma, was mit jeder Ermittlung an die Oberfläche kommen kann. Und das macht sie eben zu kaputten Individuen. Das finde ich dramaturgisch sehr spannend.
TVMovie.de: Apropos Ermittlungen: Wird es eine dritte Agathie Christie-Verfilmung von ihnen geben?
KB: Tatsächlich gibt es sogar schon ein Drehbuch. Das Publikum muss letztendlich entscheiden, ob ihnen „Tod of dem Nil“ gefallen hat. Aber der dritte Film ist großartig und in gewisser Weise sogar ein „Original“. Ich darf den Titel natürlich nicht verraten, weil ich dich sonst töten müsste (lacht). Und ich bin ehrlich gesagt darauf nicht vorbereitet.
Interview & Text: David Rams
"Belfast" startet am 24. Februar 2022 in den deutschen Kinos. Den Trailer zum Film seht ihr hier: