Mit „Green Border ("Zielona Granica") porträtiert Filmemacherin Agnieszka Holland ein dunkles Kapitel an der polnischen Außengrenze und ihre verheerenden Folgen für die EU.
„Im Dritten Reich haben die Deutschen Propaganda-Filme produziert, um die Polen als Banditen und Mörder darzustellen. Jetzt haben sie Agnieszka Holland dafür“, verkündete der aktuelle polnische Justizminister Zbigniew Ziobro auf der Social-Media-Plattform „X“ (ehemals Twitter) einige Wochen vor der großen Premiere von "Green Border" bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Sein völlig unangebrachter Nazi-Vergleich richtet sich dabei an die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland, die, wie keine andere zeitgenössische Filmemacherin, die politischen Zustände ihres Heimatlandes in ihren früheren Filmen schonungslos aufgezeigt hat. Das tut sie auch mit „Green Border (Zielona Granica)“, ihrem neuesten Spielfilm, der ein dunkles Kapitel der jüngeren Flüchtlingskrise thematisiert und dabei die unfassbaren Zustände an der „grünen Grenze“ zwischen Polen und Weißrussland aus mehreren Perspektiven porträtiert.
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"Green Border" thematisiert das politische Versagen auf allen Ebenen
Wenn sich der polnische Justizministerin angesichts einer Filmveröffentlichung zu einem solchen Tweet gezwungen fühlt, der den Output einer renommierten Filmemacherin mit der Propaganda-Maschinerie der Nazis vergleicht, dann liegt sicherlich der Verdacht nah, dass Holland mit ihrem neuesten Werk möglicherweise in ein Wespennest gestochen hat. „Green Border“ beginnt zunächst mit einem simplen Akt: In einer Kamerafahrt über das besagte Grenz-Waldstück entzieht Holland ihrem Film die Farbe und lässt die nachfolgenden Szenen, Perspektiven, Figuren und Orte in Schwarzweiß wirken. Das Stilmittel wirkt umso konsequenter, weil sich vor den Zuschauer:innen in den nachfolgenden 140 Minuten Szenen des Horrors, der Grausamkeit, der Verzweiflung und des Entsetzens entblößen und zumindest auch manche der leisen Hoffnung und der Zärtlichkeit.
Der Spielfilm ist im Herbst 2021 angesiedelt, als eine neue Welle von Flüchtlingen genau in jenem besagten Waldstück zwischen Weißrussland, Polen und Litauen teilweise auf grausame Art und Weise verendet ist. Der weißrussische Machthaber Lukaschenko hatte Menschen aus Afghanistan, Syrien, Irak, Jemen und dem Kongo nach Weißrussland unter dem Versprechen gelockt eine möglichst einfache Ausreise in die EU zu gewährleisten. Es war ein reines Propaganda-Druckmittel des Autokraten, das gegen die EU gerichtet war. An der polnischen Grenze reagierten die Grenzbeamten mit brutalen Einschüchterungsmethoden, illegalen Pushbacks, Gewalt und Terror, um den Flüchtlingsstrom im Keim zu unterbinden.
Hollands Film stellt unbequeme Fragen in kraftvollen Bildern
Holland stellt zunächst eine syrische Familie in den Mittelpunkt ihres Films, die die weißrussisch-polnische Grenze überqueren will, um sich zur Verwandtschaft nach Schweden abzusetzen. Im Waldstück ausgesetzt und am Stacheldrahtzaun zu Polen wie Vieh durchgetrieben, sind sie auf sich alleine gestellt und erleben eine Abfolge von Grausamkeiten, die schon mit Worten kaum zu beschreiben sind und visuell eine alptraumhafte Qualität entwickelt. Holland geht es jedoch nicht nur darum, den Horror an der EU-Außengrenze aufzuzeigen, sondern auch den Protagonist:innen auf allen Seiten ein Gesicht zu verleihen: Den Grenzbeamten, die in Briefings von ihren Vorgesetzten brutal gedrillt werden, dass ihnen Lukaschenko und Putin keine Menschen über die Grenze schicken, sondern „lebendige Gewehrkugeln“. Die Aktivisten und Helfer:innen, die oftmals der Verzweiflung nah sind, weil sie an rechtliche Konventionen gebunden sind und dabei einen sehr schmalen Grat navigieren müssen. Und die Unbeteiligten im Umfeld der „Green Border“, die letztendlich zwangsläufig in die Situation involviert werden – ob sie möchten oder nicht.
Die Tatsache, dass sich Holland für einen Spielfilm aus verschiedenen Erzählperspektiven entscheidet, macht sie für dieses hochbrisante Thema natürlich auch sehr angreifbar. Darsteller:innen, die möglicherweise nicht überzeugend spielen. Handlungsstränge, die deutlich blasser wirken als andere. Und jeder kleine Fehltritt in puncto Dramaturgie, Inszenierung, Aufarbeitung und Authentizität könnten diesen aufwühlenden Film schnell aus der Spur bringen. Doch das passiert „Green Border“ zu keiner Zeit, was vor allem der herausragenden Regie von Holland sowie ihrem sehr starken Ensemble-Cast zu verdanken ist. Besonders die Geschichte der Psychotherapeutin Julia (brillant gespielt von Maja Ostaszewska) geht unter die Haut: Sie entscheidet sich der Helfer-Gruppe an der „Green Border“ anzuschließen und wird dabei mit Wahrheiten konfrontiert, vor denen sie früher am liebsten ihre Augen verschlossen hätte.
Das werden auch viele Zuschauer:innen, die „diese Geschichte“ in Nachrichten & Co. möglicherweise schon vielfach gehört haben, aber für die geballte filmische Wucht von „Green Border“ nicht gewappnet sind. Über 30 Jahre nach ihrem Ausnahmefilm „Europa, Europa“ liefert Agnieszka Holland erneut essenzielles politisches Kino, das nicht nur das Herz ihres Heimatlandes, sondern auch der Europäischen Union in tausend Stücke zerreißt. Im finalen Epilog des Films, den wir an dieser Stelle nicht verraten wollen, stellt Holland die provokante Antithese zum Wahnsinn an der weißrussisch-polnischen Grenze. Und ihre vermutlich wichtigste Frage: „Ist nicht jedes Menschenleben gleich viel wert?“
Und letztendlich liefert auch der Tweet des polnischen Justizministers den finalen Beweis dafür: Es gibt immer noch guten Grund, sich vor starkem politischen Kino zu fürchten. Das ist das höchste Gütesiegel, das man Agnieszka Holland für ihren explosiven „Green Broder“ verleihen kann.
"Green Border" wurde im Wettbewerb der 80. Internationalen Filmfestspiele von Venedig offiziell uraufgeführt. Der Film ist seit dem 01. Februar 2024 in den deutschen Kinos zu sehen!
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