"Systemsprenger"-Regisseurin Nora Fingscheidt inszeniert mit "The Outrun" ein berührendes Sucht-Drama mit Saoirse Ronan in der Hauptrolle. Im Interview konnten wir mit ihr über ihr neuen Film, die Lektionen aus "Systemsprenger" und kulturelle Unterschiede in der US-Traumfabrik sprechen.
TVMovie.de: Was hat der Stoff bei Ihnen ausgelöst?
Nora Finscheidt: Es hat in mir eine tiefe Sehnsucht ausgelöst, ans Ende der Welt in die Einsamkeit zu gehen. Und gleichzeitig hat es mich natürlich auch darüber nachdenken lassen, wie man ein so innerliches Buch, was wirklich wie eine Sammlung von Tagebucheinträgen ist, in einen Film übersetzt, ohne dass alles nur über Voice-Over erzählt ist.
Gibt es die wenigen Voice-Over-Passagen im Film auch im Drehbuch?
NF: Ja, die gibt es. Im Film ist es natürlich dann wirklich reduziert auf diese paar Momente in der sogenannten „Nerd-Ebene“. Wir haben den Film generell in drei Ebenen unterteilt: Die Orkney-Ebene, die die Geschichte ihrer Heilung erzählt. Die London-Ebene, die Geschichte ihres Absturzes. Und dann eben die Nerd-Ebene, die ein Eingang ist in ihre innere Gedankenwelt und stilistisch ganz frei ist. Sie hilft aber auch dabei, die Geschichte zu verstehen. Die Texte in dieser Nerd-Ebene, die entstammen fast alle dem Buch oder wurden dann von Amy selbst geschrieben.
Welche Rolle hat Natur für die Filmproduktion gespielt?
NF: Die Gefahr war natürlich da, Dinge zu vereinfachen damit. Gleichzeitig muss man sagen, dass die Natur, in der Amy aufgewachsen ist, am Ende natürlich eine heilsame Kraft für sie entwickelt hat. Aber eben nicht nur. Es geht ja auch um eine Frau, die da in der absoluten Einsamkeit sitzt, um dann mit Astronauten zu chatten. Das sind die Menschen, die, mit denen sie eine Verbindung aufbaut - im totalen Rückzug. Solche Momente fand ich einfach so berührend, die diese tiefe Einsamkeit dieser Figur erzählen. Wir haben uns versucht, den Gegebenheiten der Natur anzupassen und auch unterzuordnen. Die Natur war wie eine eigene Figur im Film, die allerdings sehr viel in unseren Drehplan beeinflusst hat.
Wir mussten mehrfach nach Orkney. Wir waren im April vor Ort, als die Lämmer geboren wurden. Dann wieder im Juni, als die Vögel nisteten. Dann wieder im September, als die Robben da waren. Und natürlich auch im Winter, als der Schnee gefallen ist. Und selbst wenn wir länger am Stück da waren, mussten wir immer flexibel bleiben. Wie würde das Wetter morgen aussehen? Stürmt es oder scheint die Sonne? Und je nachdem hatten wir Version A, B oder was wir drehen würden, und das ganze Team musste sich dem Wetter anpassen. Und das war aber irgendwie auch richtig. Weil das eben auch ein Teil der Geschichte ist.
Unsere Filmkritik zu "The Outrun":
Gibt es die verschiedenen Erzählebenen so auch in der Vorlage?
NF: Eigentlich alles, was in diesem Drehbuch ist, stammt aus Amys Tagebucheinträgen oder ihrem Leben. Und Amy ist ein Mensch, der sich sehr über Mode und äußere Dinge ausdrückt, und das immer noch tut. Für uns war das sehr nützlich, weil wir diese Charaktereigenschaft nutzen konnten, um dem Publikum zu helfen, die verschiedenen Ebenen halbwegs auseinanderhalten zu können. Das gelingt allerdings nicht komplett und soll auch gar nicht so sein. Es ist schon bewusst, dass der Film am Anfang das Chaos erzählt. Sie ist auf Orkney, aber sie will da nicht sein. Und sie hängt irgendwie in der Vergangenheit fest und schaut in die Zukunft. Man ist beim Schauen des Films etwas verloren – genauso wie sie. In der zweiten Hälfte, wenn sie zur Ruhe kommt, dann kommen wir auch zur Ruhe und dann können irgendwie alle noch mal durchatmen. Die Musik wiederum hat auch mit Amis Seite in London zu tun. Diese Ekstase und diese Extreme, die sie gesucht hat in den Raves und in den Techno Clubs. Und sie hat diese Musik mit nach Orkney gebracht, was natürlich auch ihre Sehnsucht angesprochen hat. Sie hat mir dann erzählt, dass sie die Kopfhörer irgendwann abgenommen und nur noch den Wellen zugehört hat. Diese Transformation hat mich sehr berührt. Dass sie den Dingen, die sich 30 Jahre lang von diesem Ort eigentlich entfremdet hat, plötzlich anfängt zuzulassen und hinzuhören.
Ist Rona aus „The Outrun“ im Geiste eine ältere Schwester von Benny aus „Systemsprenger“?
NF: Rona kommt aus einem stabilen Umfeld. Sie hat immer noch ihre Mutter und ihren Vater, die natürlich beide sehr eigen sind, mit der psychischen Erkrankung und der extremen Religiosität. Und deshalb hat Ron einen ganz anderen Halt im Leben und eine Verankerung, die eine Figur wie Benny niemals haben könnte. Trotzdem haben die Figuren natürlich eine Gemeinsamkeit in dem Sinne, dass sie mit sich selbst kämpfen. Dass der wirkliche Antagonismus der Geschichte nicht von außen kommt. Es ist nicht ein Kampf der guten Heldin gegen das Böse. Es ist ein innerer Kampf mit den eigenen Dämonen.
Der Ausgang der beiden Geschichten ist auch sehr unterschiedlich…
NF: Das ist richtig. Im Fall von Rona ist es die Geschichte einer Heilung - noch deutlich mehr als die Geschichte einer Sucht. Es ist die Erfolgsgeschichte von Amy, die einem Hoffnung gibt. Sie ist angekommen im Leben, zwölf Jahre nüchtern und hat Bücher geschrieben. Sie hat irgendwie geschafft, diese Extreme in etwas Schönes zu drehen.
Hat Ihnen der Erfolg von "Systemsprenger" geholfen?
NF: "Systemsprenger" ist für mich ein großes Geschenk gewesen. So viele Menschen haben den Film im Kino geschaut und haben mit Benny mitgefiebert und mitgelitten. Das hat mir ermöglicht, danach in Amerika drehen zu dürfen, um noch einmal ganz andere Erfahrungen sammeln zu können.
Gibt es eine Sache, die Sie gerne gewusst hätten, bevor Sie in Amerika gedreht haben?
NF: Es hat relativ lange gedauert in Amerika, bis ich gelernt habe, wie man dort miteinander umgeht. Denn auch wenn wir ähnlich aussehen, ist es doch ein extremer Kulturunterschied. Und die Kommunikation, wie man bspw. Ideen und Feedback äußert, ist eben ganz anders. Und da wird die deutsche Art dann doch sehr schnell als unhöflich empfunden. Ich habe Leute vor den Kopf gestoßen, ohne das zu wollen. Ich habe dann erst Monate später begriffen, wie man auch zum Ziel kommen kann, ohne mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder geradeheraus zu sagen, was man immer denkt. Die meisten Kulturen auf der Welt kommunizieren höflicher miteinander, als die Deutschen das tun. Es fällt einem vor allem auf, wenn man nach einer längeren Zeit im Ausland wieder zurückkommt.
Sie haben nach Systemsprenger sicher sehr viele Anfragen bekommen. Wie behält man da die Klarheit?
NF: Das ist eine gute Frage. Das ist so eine Mischung aus Bauchgefühl und Timing. Es kamen tolle Projekte zu mir, die ich nicht machen konnte, weil mein Sohn gerade geboren wurde. Wir haben in den USA noch ein Kind bekommen. Manchmal gibt es auch tolle Projekte, die dann aber zu ähnlich sind zu dem, was ich gerade gemacht habe. Und manchmal gibt es auch Projekte, bei denen ich das Gefühl habe, dass eine andere Regie einfach besser wäre. Es muss letztendlich ein Projekt sein, das es mir wert ist, zwei bis drei Jahre meines Lebens dafür herzugeben, meine Familie zu vernachlässigen und gleichzeitig eine Begeisterung in mir auszulösen. Viele Projekte finde ich beim Lesen spannend, aber habe sie eine Woche später wieder vergessen. Manchmal ist es auch die Konstellation. Bei „The Outrun“ war es wirklich eine Mischung aus dem Inhalt, dem Ort und der Hauptdarstellerin. Und ich hatte auch einfach nach drei Jahren Amerika großes Heimweh, wieder in Europa zu arbeiten und mit meinen Freunden Filme zu drehen. So toll die Erfahrung da drüben auch war, so wollte ich dann doch auch mal wieder nach Hause kommen.
"The Outrun" ist seit dem 05. Dezember 2024 in den deutschen Kinos zu sehen!