Ubisoft läutet mit "Watch Dogs: Legion" einen heißen Spieleherbst ein und verspricht maximale spielerische Freiheit mit dem "Play as Anyone"-Prinzip. Ob das tatsächlich aufgeht, verraten wir in unserem Test!
"Play as Anyone". Ein Spielprinzip, dem sich “Watch Dogs: Legion“ tastsächlich in fast jeder Hinsicht unterwirft. Denn quasi jeder NPC, dem ihr in der Spielwelt von "Watch Dogs: Legion“ begegnet, lässt sich als potenzielles Mitglied der Hacker-Vereinigung DedSec rekrutieren. Alle Figuren bekommen Backstorys spendiert, besitzen oft (mehr oder weniger) passende Spezialfähigkeiten und natürlich ein individuelles Aussehen und eine individuelle Stimme. Dass das Entwicklerteam in die "Play as Anyone"-Ausrichtung sehr viel Zeit und Mühe investiert hat, steht außer Frage. Und tatsächlich geht das Spielprinzip größtenteils auch auf und ist gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche des Open-World-Hackerspiels. Warum? Das versuchen wir in unserer großem "Watch Dogs: Legion"-Test zu klären.
London Calling
Zunächst einmal zur Ausgangslage: Dass ihr in „Watch Dogs: Legion“ am besten eine ganze Armee an NPCs rekrutieren sollt, liegt auf der Hand. Schließlich seid ihr ein Mitglied von DedSec und werdet für einen schweren Terroranschlag in der britischen Hauptstadt verantwortlich gemacht, den ihr zu Beginn des Spiels eigentlich noch verhindern wollt. Und wie es dann natürlich immer so ist: Anstatt die Verantwortlichen tatsächlich ausfindig zu machen, freut sich die völlig überforderte Regierung darüber, dass die vermeintlichen Schuldigen schnell gefunden sind.
Deshalb wird die Hightech-Firma Albion beauftragt DedSec und seine Mitglieder gnadenlos zu jagen und zu eliminieren. Und zum Repertoire von Albion gehören nicht nur perfide Überwachungsmethoden, die selbst George Orwell nur staunen lassen würden, sondern natürlich auch brutaler Machtmissbrauch und das Hetzen gegen schutzbedürftige Minderheiten. Doch Albion ist nicht der einzige Key-Player, der krumme Dinge in den Straßen von London dreht: Clans und Tech-Firmen streiten sich um den Titel des größten Menschenfeindes. Und dann ist da noch die mysteriöse Gruppierung namens Zero-Day, die für den Bombenanschlag in London eigentlich verantwortlich ist. Doch wer steckt wirklich dahinter?
So futuristisch, abgedreht und auch etwas anarchistisch das Szenario von "Watch Dogs: Legion" auf dem Papier einmal geklungen haben muss, so ernst und überraschend zeitgemäß erscheint es gerade im Zeitalter von Trump & Corona, auch wenn Ubisoft den dritten Teil der Hacker-Reihe natürlich mit dem obligatorischen Zynismus und Humor anreichert. Für letzteres sorgen vor allem die amüsanten Ansagen eurer AI, die euch während und zwischen den Missionen helfend zur Seite steht. Doch ist die Story auch gelungen? Teils, teils. Bösewichter wirken manchmal zu sehr wie Abziehfiguren und trotz des dystopischen Szenarios ist die Geschichte relativ gradlinig und konventionell aufgebaut – ohne größere Überraschungen. Immerhin werden die Missionen im Verlauf der Kampagne deutlich abwechslungsreicher und auch das Gameplay deutlich nuancierter, auch wenn „Watch Dogs: Legion“ trotz „Play as Anyone“ ein klassisches „Watch Dogs“ ist – im Guten, wie im Schlechten.
Drohnen-Bauarbeiter trifft auf getarnten Ex-Soldaten
Die Ambivalenz und die Grenzen des "Play as Anyone"-Prinzips zeigen sich sehr schön an Elton Tucker, einem unserer DeadSec-Mitstreiter, den wir in einer der ersten Story-Missionen rekrutiert haben. Elton ist Bauarbeiter und kann seine Gegenspieler nicht nur mit einer mächtigen Zange bearbeiten, sondern auch jederzeit eine Transport-Drone zu Hilfe rufen, die uns in zahlreichen Missionen verdammt nützlich wurde. Auch in den späteren und durchaus herausfordernden Story-Missionen infiltrierten wir schwer bewachte Albion-Gebäude meist von oben: Wir stiegen auf die Transportdrone, ließen uns in luftige Höhen befördern und warfen aus sicherer Entfernung unserer Spiderbot ab, der den Großteil der "Drecksarbeit" meist erledigt hat. Die vermeintliche "Umschulung" aus Elton einen Spiderbot-Profi zu machen war ein voller Erfolg und reduzierte den Schwierigkeitsgrad vieler Aufträge maßgeblich. "Watch Dogs: Legion" lässt euch natürlich die freie Wahl, wie ihr Missionen tatsächlich angehen möchtet. Doch schnell stellte sich bei uns ein Muster raus: Entweder wir beförderten uns mit Elton in luftige Höhen oder wechselten kurzerhand zu unserem zweiten Favoriten, Danny Foster, einen Ex-Soldaten und ehemaligen Albion-Mitstreiter, den wir anhand einer aufwendigen Rekrutierungsmission und mit Hilfe unserer Deep Dive-Tools, die wir zuvor freischalten mussten, für unsere Sache gewinnen konnten.
Danny kann als Albion-Mitglied nämlich in jedes Albion-Gebäude problemlos reinspazieren, wird nur als "Spitzel" enttarnt, wenn er entweder einem Wachposten zu nah kommt und so entdeckt wird oder bspw. beim Hacken beobachtet wird. Mit Danny konnten wir sehr viele Missionen quasi lautlos durchexerzieren, da meist nur Informationen aus Gebäuden zu beschaffen oder zu zerstören war oder bspw. eine Geisel aus der U-Haft befreit werden musste. Das Spielprinzip ist cool und raubt gleichzeitig auch die Immersion: Meist switchen wir kurz vor Auftrag noch schnell zur Hauptfigur, die am besten passt. Das ist natürlich im revolutionären Szenario von "Watch Dogs: Legion" absolut adäquat, aber es wirkt eher als würden wir eine Art Spielmechanismus bedienen als einen „echten“ Spielcharakter zu steuern. Es fehlt einfach eine Hauptfigur bzw. ein Gesicht (und die Gesichter unserer Spielfiguren sind oft wahrlich nicht ansehnlich), das die Geschichte trägt und uns für den Freiheitskampf im wunderbar eingefangenen futuristischen London motiviert.
Ach London, meine dystopische Perle | Entdecken und Tech-Skillen
Apropos London: Zumindest beim Setting trifft Ubisoft mit "Watch Dogs: Legion" voll ins Schwarze. Als kultureller Schmelztiegel mit unglaublich vielen Einflüssen besitzt die britische Hauptstadt einfach ein unglaubliches Potenzial, ist aber gleichzeitig auch eine große Herausforderung. Doch London erweist sich im Spiel als lebendiger und unglaublich gut getroffener „Schlüsselspieler“: Die Spielwelt hat uns an fast jeder Ecke mit ihren vielen liebevollen und authentischen Details beeindruckt. Egal, ob wir kurz mal mit einem Speedboat über die Themse gleiten, uns eine Hacker-Verschnaufpause im "London Eye" gönnen, uns bei den zahlreichen Dribbel-Challenges beweisen oder durch das nächtliche Camden mit einem der futuristischen Fahrzeuge cruisen: "Watch Dogs: Legion" entwirft eine wunderschöne und glaubhafte Spielwelt, die auch deutlich düsterer und ernster ausfällt als das "Sunny California"-Szenario im zweiten Teil. Besonders cool: Sobald ihr mehrere Aufgaben in einem Londoner Bezirk erledigt habt, schaltet ihr eine Spezialmission frei, die sich meist auf ein wichtiges Londoner Wahrzeichen bezieht: So gibt es z.B. eine Art Wettrennen, in dem ihr eurem potenziellen Rekruten Zeit verschaffen müsst oder eine Art Plattforming-Mission mit eurem Spiderbot im Inneren des Big Ben. Die Spezialmissionen fallen meist sehr kreativ aus und sind richtig großartig designt.
Nützlich sind sie aber auch: Denn nicht nur erhaltet ihr einen mächtigen neuen Rekruten in den Reihen von DedSec, sondern schaltet auch den Standort aller Tech-Points im Bezirk frei. Mit den Tech Points könnt ihr im Tech-Baum neue Talente für alle eure Rekruten freispielen, wie bspw. die Möglichkeit feindliche Kampfdrohnen zu hacken, Leichen „verschwinden“ zu lassen oder eurem Spiderbot den äußerst nützlichen Doppelsprung beizubringen. Die Jagd nach den Tech-Points hat mich immer wieder an die Suche nach den Rucksäcken in „Marvel’s Spider-Man“ erinnert: Meist sind sie schwer (oder nur im feindlichen Gebiet) erreichbar, verbergen sich hinter einer Tür, für die ihr das obligatorische "Watch Dogs"-Schalterrätsel lösen müsst oder können nur per Spiderbot aufgenommen werden.
Für Freunde der Exploration bietet "Watch Dogs: Legion" einen ziemlich vollen Schauplatz mit vielen Entdeckungen: Neben Tech Points könnt ihr allerhand Audio Logs und Dokumente finden sowie unique kosmetische Items, mit denen ihr eure DedSec-Mitstreiter ausstatten könnt. Wenn ihr mit der Kampagne durch seid, ist jedoch noch nicht ganz Schluss: Ab dem 3. Dezember 2020 will Ubisoft mittels eines kostenloses Updates einen Multiplayermodus für Watch Dogs Legion veröffentlichen. Neben Koop-Einsätzen mit bis zu vier Spielern sind auch PvP-Modi geplant – u.a. mit Spider-Bots & Co. Weitere Inhaltsupdates sollen 2021 veröffentlicht werden.
Technische Höhen und Tiefen auf der PS4 Pro
Die imposante Spielwelt hat auch (ihren) Preis: "Watch Dogs: Legion" ist ein ziemlich forderndes Spiel und hat die von uns getestete PS4 Pro-Fassung leider regelmäßig in die Knie gezwungen. Während die Performance größtenteils in Ordnung geht (es steht lediglich ein 30FPS-Modus zur Verfügung auch auf der Pro) und es nur selten zu Framerate-Einbrüchen kam, haben wir allerdings mehrere Abstürze und auch Bugs (wie schwebende Busse, eingefrorene Passanten usw.) erlebt. Beim Fahren durch die Stadt sind Pop-Ins beinahe konstant zu beobachten. Besonders nervig: Teilweise laden Texturen erst sehr spät ins Bild. So war unsere Transport-Drone in den ersten Sekunden oft texturlos, als wir uns auf sie gestellt haben. Auch die Ladezeiten zu Beginn des Spiels sowie beim Nutzen der Fast-Travel-Option erhöhen die Vorfreude auf die Next-Gen-Konsolen: 1-2 Minuten an Ladezeit sind einfach nicht mehr zeitgemäß.
Immerhin: Nutzer der PS4 bzw. Xbox One-Fassungen werden Watch Dogs: Legion gratis upgraden können. Auf den Next-Gen-Fassungen erwartet euch dann sowohl auf der Xbox Series X als auch auf der PS5 4K-Auflösung (mit voraussichtlich 30 Bildern pro Sekunde) und Raytracing sowie auf beiden Plattformen deutlich kürzere Ladezeiten. PlayStation 5-Nutzer dürfen sich außerdem auf 3D-Audio und die Nutzung der adaptiven Trigger des Dualsense-Controllers freuen. Die Xbox Series X-Fassung steht ab dem 10. November zum Launch der Konsole bereit, die PS5-Fassung erscheint ab dem 12. November als digitale Version sowie ab dem 24. November als physische Disc.
Watch Dogs: Legion Unser Testfazit
"Watch Dogs: Legion" ist vielleicht der bisher abwechslungsreichste und umfangreichste Teil der „Watch Dogs“-Reihe, doch lässt uns auch ziemlich zwiegespalten zurück: Auf der einen Seite kreiert Ubisoft tatsächlich eine der beeindruckendsten Spielwelten seit langer Zeit. London ist der perfekte Schauplatz für eine dystopische Zukunftsvision und wurde extrem liebevoll umgesetzt, mit unzähligen Details und vielen coolen (Neben-)Aufgaben. Die spielerische Freiheit im Open-World-Spiel ist immer noch die große Stärke der „Watch Dogs“-Reihe: Ob ich meine Missionen "sneaky" mit dem Spiderbot erledige oder Voll-Karacho mit Maschinengewehr und gehackter Superdrohne bleibt mir überlassen. Die spielerische Freiheit wird mit dem coolen Play-as-Anyone-Prinzip noch einmal auf eine neue Ebene gestellt. Doch für uns kostet das Prinzip auch viel Immersion: So ganz konnten wir wegen der ständigen Wechsel unserer Hauptfigur dann doch nicht in die Story abtauchen, die zwar ordentlich inszeniert ist, aus ihrem dystopischen Zukunftsszenario aber insgesamt zu wenig macht. Technisch bringt "Watch Dogs: Legion" unsere PS4 Pro an die absoluten Leistungsgrenzen und weist in der aktuellen Fassung noch einige Bugs auf, die mit einem ersten Patch am 30.10. hoffentlich gefixt werden.
Watch Dogs: Legion erscheint am 29. Oktober 2020 für PC, Stadia, Xbox One und PS4. Die Xbox Series X | S-Fassung steht genauso zum Konsolen-Launch am 10. November zur Verfügung wie auch die PlayStation 5-Fassung am 19. November. Käufer der PS4- bzw. Xbox One-Fassungen erhalten die Next-Gen-Upgrades kostenlos.
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